Most Wanted

Das Programm 9

Leonie saß im Klassenzimmer und starrte die Uhr über der Tür an. Deutsch würde die ganze Woche entfallen. Warum die Schule darauf bestand, eine Vertretung zu schicken, erschloss sich ihr nicht. Warum gönnte man ihnen nicht einfach eine Freistunde? Es war ja nicht so, als dass man in Vertretungsstunden irgendetwas lernte, außer wie man am Besten die Zeit totschlug. Offiziell hatte die Stunde nun seit einer Minute begonnen. Bisher war noch kein Lehrer aufgetaucht wie so oft. 

Ihre Mitschüler teilten offenbar die Haltung, dass eine Vertretungsstunde komplette Zeitverschwendung war. Und verhielten sich entsprechend. Einige saßen auf den Tischen und unterhielten sich. Der Lärmpegel war entsprechend. 

Umso erstaunlicher war der Effekt, als sich die Tür öffnete, und die ersten zu realisieren begannen, wer da den Raum betreten hatte.

Der Lärm ebbte ab und wich zunehmend einer ertappten Stille. Pech für Naomi, die mit dem Rücken zur Tür auf dem Tisch saß und wie üblich eine etwas längere Leitung hatte. Als sie die Veränderung in der allgemeinen Atmosphäre wahr nahm und sich zur Tür umdrehte, war es zu spät.

„Naomi! Sie besuchen jetzt wirklich lange genug diese Schule, um zu wissen, dass die Stunde mit dem Gong beginnt und nicht mit der Anwesenheit des Lehrers! Und wie Sie sich zu Beginn einer Schulstunde zu benehmen haben, sollte Ihnen auch bekannt sein! Kommen Sie nach der Stunde bitte kurz vor zu mir.“

Es war beeindruckend zu sehen, wie die hochgewachsene Schülerin mit den bunt gefärbten Haaren und den schwarzen Klamotten zusammenzuckte. Der entsetzte Blick auf ihrem Gesicht sprach ebenfalls Bände. 

Kaum einen Augenblick später saß sie artig auf ihrem Stuhl. Auch wenn sie sichtlich nervös darauf herum rutschte.

„Es tut mir leid, Frau Lazka!“

Sie zitterte. Und wirkte tatsächlich reichlich blass, auch wenn man das bei ihrer Hautfarbe immer etwas schwer beurteilen konnte.

Wirklich beeindruckend. Es war bekannt, dass Naomi schon das ein oder andere Mal nähere Bekanntschaft mit Frau Lazka und Herr Baumann gemacht hatte. Kein Wunder. Naomi war eine tickende Zeitbombe unterdrückter Wut. Die halbe Jahrgangsstufe hatte Angst vor ihren Ausbrüchen. Offenbar zeigte das Programm bei ihr Wirkung.

Auch das war kaum verwunderlich. Sie selbst erinnerte sich an ihren Besuch bei Herr Baumann zurück. Obwohl sie wusste, dass er sie sehr milde behandelt hatte, spürte sie keinerlei Wunsch, diese Erfahrung zu wiederholen. Es waren zwar nur sechs Hiebe mit dem Lederriemen gewesen. Der Rohrstock war ihr erspart geblieben und sie hatte eine Gymnastikhose anbehalten dürfen. Aber es hatte sie dennoch überrascht, wie sehr es weh getan hatte. Und das war der korrekte Herr Baumann gewesen. Schlimm genug. Aber im Vergleich zu Frau Lazka galt er als das kleinere Übel.

Naomi, so hörte man, hatte eine der bisher heftigsten Strafen in der kurzen Geschichte des Programms über sich ergehen lassen dürfen. Und zwar von Baumann und Lazka zusammen.

Kein Wunder, dass sie alles andere als glücklich wirkte, nachdem Frau Lazka sie jetzt erneut auf dem Kieker hatte.

„Und der Rest von Ihnen! Sie brauchen gar nicht so schadenfroh daher schauen! Sie besuchen die Abschlussklasse! Von Ihnen erwartet man, dass Sie sich als Vorbild verhalten für die jüngeren Jahrgangsstufen! Aber sie veranstalten hier einen derartigen Radau, dass man Sie noch im nächsten Flur hören konnte! Ich sollte dem ganze Kurs einen Verweis erteilen! Aber das wäre unfair gegenüber den wenigen unter Ihnen, die sich offenbar erinnert haben, welche Regeln hier gelten! Nehmen Sie sich ein Beispiel an Schülern und Schülerinnen wie Paul hier. Oder Charlotte oder Leonie.“

Leonie zuckte zusammen. Es gefiel ihr gar nicht, auf diese Weise als Positivbeispiel und somit Kameradenschwein geoutet zu werden. Zudem hatte sie wirklich gehofft, sie wäre Frau Lazka unbekannt. Wenn die Lazka deinen Namen nicht kannte, konnte sie dich auch nicht in Schwierigkeiten bringen.

Sie warf einen verstohlenen Blick auf die anderen Schüler, die ebenfalls dieses vergiftete Lob erhalten hatten. Paul saß vornübergebeugt mit knallrotem Kopf auf seinem Stuhl. Charlotte hingegen strahlte selbstzufrieden über ihr ganzes Gesicht. Was sollte man erwarten, sie war eben eine Grad-A-Streberin.

Frau Lazka schrieb nun Naomis Namen an die Tafel.

„Hier schreibe ich alle von Ihnen auf, die stören oder anderweitig negativ auffallen. Sie haben im Verlauf der Stunde die Gelegenheit, mich durch gute Beiträge davon zu überzeugen, dass Ihr Name dort zu Unrecht steht. Dann werde ich ihn streichen. Alle, die am Ende der Stunde noch dort stehen, werden die Konsequenzen spüren. Das gilt auch für Sie, Naomi. Ihre Chance, Ihren Arsch zu retten. Das meine ich durchaus wörtlich!“

Kaum zu glauben, aber die Stille wurde noch stiller. Diese Frau war der Teufel! So konnte man doch keine Abiturienten behandeln. Ein Gutes hatte die Sache allerdings. Man konnte über Frau Lazka sagen, was man wollte, aber sie war eine fähige und engagierte Lehrerin. Sie hatte einen Stapel alte Abituraufgaben für das Fach dabei und begann diese nun mit dem Kurz durchzuarbeiten. 

Allerdings duldete sie nicht auch die geringste Störungen. Nach 30 Minuten hatte sie bereits die Namen von 12 Schülern und Schülerinnen an der Tafel vermerkt, um die sie sich später kümmern wollte. Naomi hatte es geschafft, eine korrekte Lösung vorzuschlagen. Woraufhin Frau Lazka ihr anerkennend zugenickt und den Namen von der Tafel gestrichen hatte. Man konnte sehen, wie die Schülerin erleichtert aufatmete.


Die Stunde zog sich in die Länge. Obwohl der Stoff interessant und relevant war, trug die angespannte Atmosphäre im Klassenzimmer nicht gerade dazu bei, dass Leonie sich gut konzentrieren konnte. Immerhin schaffte sie es, still und unauffällig zu bleiben.

Als die Stunde sich ihrem Ende näherte, standen noch sechs Namen an der Tafel. Frau Lazka schien zufrieden zu sein mit sich und dem Ablauf der Stunde. Fünf Minuten vor dem Gong fragte sie, ob noch jemand eine Frage oder eine Anmerkung vorbringen wollte.

Paul meldete sich. Dann stand er auf und sprach.

Leonie lief es eiskalt den Rücken hinunter. Hatte sie das gerade richtig gehört? Hatte er das eben wirklich gesagt? Es war, als ob die ganze Welt für einen Atemzug still stand und alle Menschen in diesem Raum mit ihr. Charlotte starrte ihren Freund mit weit aufgerissenen Augen an. Naomi stand der Mund offen. Die Temperatur im Raum sank auf gefühlte Minus 30 Grad.

Was war nur in Paul gefahren? Ausgerechnet in ihn?


„Frau Lazka ich möchte mich im Namen des Kurses bei Ihnen bedanken, dass Sie sich extra für uns so engagiert haben, und persönlich möchte ich hinzufügen, dass Sie heute wieder sehr schön aussehen. Der Rock bringt ihre Beine super zur Geltung.“

Das hatte er gesagt. Selbst Frau Lazkas Lächeln schien von der arktischen Tieffront eingefroren zu sein.

„Paul! Bleiben Sie bitte nach der Stunde noch, damit wir über diese ungeheuerliche Respektlosigkeit unterhalten können. Alle anderen... Können gehen", zischte die Lehrerin

Mit einer dramatischen Geste wischte sie alle Namen von der Tafel.

„Jetzt! Die Stunde ist beendet! Alle raus!“

Leonie packte hektisch ihre Sachen zusammen und verließ mit den anderen fluchtartig das Zimmer, bevor der gerechte Zorn der Lehrerin noch Kollateralschäden verursachen konnte.


Armer Paul. Was war denn in ihn gefahren? Er hatte in den letzten Tagen schon seltsam in sich gekehrt gewirkt. Aber dass er offenbar akut suizidal war, damit hatte niemand gerechnet. Charlotte weinte im Flur an eine Wand gelehnt leise vor sich hin. Sie wurde sofort von einer Gruppe Grad-B-Streberinnen umringt und getröstet.

Leonie bemerkte, dass sie neben Naomi stand. Das hochgewachsene Mädchen drehte sich zu ihr und musterte sie kurz. 

„Was geht denn mit dem? Ist der völlig lost jetzt? Der kann doch der Lazka nicht so einen Spruch vor den Latz ballern! Ein Glück dass wir alle da heil raus gekommen sind!“

„Ja, das war ganz schön frech“, piepste Leonie verlegen, dass Naomi sie so angesprochen hatte.

„Mädchen. Du und ich wissen beide, was er sich da eingebrockt hat. Schau mich nicht so an. Du bist jetzt eine von uns. Jeder weiß, dass du letzens beim Haumann warst. Ich hab dich zusammenzucken sehen vorhin, als die Hexe mich angemault hat. Und ich bin auch nicht scharf drauf, diese Erfahrung zu wiederholen. Das letzte mal hat mir echt gereicht! Ich war scheiß froh, als sie meinen Namen von der Tafel gestrichen hat. So wie jeder, der mal ihre spezielle Aufmerksamkeit genossen hat. Aber Der Paul? Neeein! Doch nicht der Paul! Oh nein! Und der weiß am Besten, was ihn erwartet! Nachdem, was er sich das letzte Mal eingefangen hat. Der konnte save ne Woche nicht sitzen! Braucht der ne Domina oder was? Ich sag es dir, an dieser Schule läuft echt kranker Shice. Und guck mal, wie seine kleine Streberfreundin jetzt maximale Aufmerksamkeit für sich aus der Sache zieht. Buhu, mein armer Paul Buhu... Aber egal, was den Paul gerade geritten hat, er hätte uns alle übel in die Scheiße reiten können damit. Die Lazka war eh schon kurz davor, ihren Frust am ganzen Kurs auszulassen. Da hat nicht viel gefehlt, und wir wären alle mit drin gehangen. Dem werd ich was erzählen, wenn ich ihn mal allein erwische!“

„Naomi, sei mal kurz leise, ich versuche zu hören, was da abgeht. Es ist mega still da drin.“

Die angesprochene grinste. "Ja, so ein bisschen neugierig bin ich auch!"

Aber die dicke Klassenzimmertür ließ keinen Laut nach draußen klingen, egal wie sehr die Mädchen ihre Ohren spitzen.

Pünktlich zum Gong öffnete sich die Tür, und Paul kam heraus. Leonie stand nahe genug, um sein Gesicht zu sehen. Sie hatte erwartet, ihn kreidebleich und mit dem Schock ins Gesicht geschrieben zu sehen. Doch kaum zu glauben, aber er wirkte fast erleichtert und grinste sogar. Bis sein Blick auf seine verheulte Freundin fiel. Da zog er den Kopf ein, drehte sich um und ging in die andere Richtung davon.

Naomi hatte Recht, an dieser Schule passierten merkwürdige Dinge. Leonie beeilte sich, vom Flur zu verschwinden, bevor Frau Lazka das Zimmer verließ. Die schlaueren Mitschüler taten es ihr gleich.




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