Most Wanted

Das Programm 7

Franziska Haas hatte sich dann letztendlich schnell für einen figurbetonten Casual-Look entschieden. Chucks, Skinny Jeans und ein enges, ärmelloses Top. Darüber trug sie einen Blazer. Sie war froh, es nicht übertrieben zu haben mit dem Outfit. Oli war ebenfalls casual unterwegs. Jeans, T-Shirt, Pulli. Damit sah er sogar weniger förmlich aus als in der Schule, wo er wenigstens ein Hemd trug. Dann war das also kein Date. Auch gut. Das hieß nämlich, sie musste nicht aufpassen, was sie sagte, um die Stimmung nicht zu ruinieren. Und sie hatte durchaus ein paar Dinge auf dem Herzen. Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu Emilys seltsamer Bestrafung zurück. 

Inzwischen kam es ihr nicht mehr wie ein absurdes Theaterstück vor, sondern eher so, als ob die beiden in einer Art Code kommuniziert hatten, den sie nicht verstand. Natürlich verstand sie die Sprache. Doch die beiden hatten zwar normale, allbekannte Wörter benutzt, aber offenbar etwas anderes damit gemeint.

Und das machte sie wütend. Zum einen fand sie es reichlich unprofessionell, immerhin machte es ihren Job als Assistentin ziemlich sinnlos, wenn sie nicht verstand, was eigentlich vor sich ging.

Aber da war noch mehr. Es war eine merkwürdige Vertrautheit zwischen Oli und dem Mädchen zu spüren gewesen. Eine art unausgesprochenes Einvernehmen.

Franziska fühlte sich ausgeschlossen. Und sie hatte einen leichten Stich der Eifersucht deswegen gespürt. Was ihr selbst reichlich albern vorkam.

Dennoch bestand Redebedarf. Aber vielleicht war es besser, nicht gleich mit der Tür ins Haus zufallen.

„Woher wusstest du eigentlich, dass Leonie auftauchen würde?“

„Ich war mir da ganz sicher. Ich kenne sie. Wenn sie einen Termin hat, wird sie kommen, sie ist sehr korrekt in diesen Dingen.“

„Nur nicht bei den Hausaufgaben?“

„Ach, bei mir hat sie die damals immer gemacht. Und das sorgfältig und begeistert. Obwohl sie zuhause den einzigen Schreibtisch mit zwei Geschwistern teilen musste.“ 

„Und jetzt fängt sie offenbar an zu schlampern? Schlechtes Timing, so kurz vor dem Ziel. Hausaufgaben sind wichtig.“

„Meine Güte, in der Oberstufe sieht man das doch nicht mehr so eng! Und dafür eine mündliche 6? Das kann in ihrem Abschlusszeugnis in einem Fach wie Biologie eine ganze Note nach unten bedeuten. Das ist doch idiotisch! Noten sollten Leistungen bewerten, nicht Disziplin.“

„Genau dafür wurde doch das Programm eingeführt. Sie hatte die Wahl. Entweder die mündliche 6 oder die sechs mit dem Lederriemen.“

„Was ist denn das bitte für eine Wahl? Ich bin echt froh, dass sie es mir offenbar nicht allzu übel genommen hat. Ganz ehrlich, ich habe mich dabei genauso geschämt wie sie, schätze ich mal.“

„Schämen solltest du dich wegen etwas anderem. Du hast sie nämlich quasi ungeschoren davon kommen lassen. Und was du dir bei ihr gespart hast, hast du dann bei Emily mit drauf gelegt, oder? Denkst du, dass das diese Pillepalle-Strafe bei Leonie ihren Zweck erfüllt hat?“

„Denkst du jetzt auch schon, dass ich meine Delinquentinnen verhätschele? Ist es das, was du sagen willst?“

„Nein, ich weiß, dass du sehr streng und konsequent sein kannst, das hast du gerade eben bei Emily wieder gezeigt. Es ist nur... Anna-Lena, Dana, Emily... Und jetzt Leonie?“

„Was willst du damit sagen?“ 

„O.k, jetzt mal wie früher so von Franzi zu Oli, o.k? Ich weiß nicht, wie ich es nett sagen soll. Es ist nur... weißt du, dass im Kollegium schon von 'Haumanns Girls' gesprochen wird? Ich weiß, dass du sehr streng zu ihnen bist, ich war schließlich oft genug dabei. Besonders zu Anna-Lena. Trotzdem kommen alle drei regelmäßig immer wieder zu dir. Besonders Anna-Lena. Offenbar brauchen sie das. Obwohl sie vermutlich ein paar Tage Sitzprobleme haben werden, wenn sie das Zimmer wieder verlassen. Sie suchen und bekommen bei dir irgendetwas, das sie brauchen. Und das macht mir Sorge, o.k. Ich denke, es ist für die Mädels eben auf eine mir unerklärliche Art nicht nur unangenehm, von dir bestraft zu werden. Und wenn du jetzt für Leonie ein Wohlfühl-Ambiente schaffst, werden wir sie auch bald regelmäßig sehen, fürchte ich. Also lieber gleich beim ersten mal klare Fronten schaffen, hätte ich gesagt. Mir ist völlig klar, dass du den Job ursprünglich gar nicht wolltest. Und das ganze Programm nicht. Aber jetzt hast du den Job, also mach ihn auch.“

So, jetzt war es raus. Ein wenig ängstlich vor seiner Reaktion sah sie ihn an. Oli ließ sich Zeit mit seiner Antwort. 

Er griff nach seinem Bierglas und nahm einen tiefen Schluck. Dann sah er sie einen Moment lang schweigend an, der gerade lang genug war, sich ein kleines bisschen unangenehm anzufühlen.

„O.k. Dann jetzt von Oli zu Franziska. Das Programm ist gescheitert. Gründlich gescheitert. Und ehrlich gesagt: das überrascht mich gar nicht. Es geht einfach von völlig falschen Grundprämissen aus.“

„Wie meinst du das?“

„Schau. Es gibt die Fälle. Ein Schüler oder eine Schülerin stellt etwas an. Vielleicht aus Unachtsamkeit oder in der Hybris zu glauben, unantastbar zu sein, oder zumindest nicht erwischt zu werden. Manchmal auch einfach um auszutesten, wie weit man gehen kann, bis wir es ernst meinen. Das ist ein völlig normales Verhalten unter Heranwachsenden. So. Und irgendwann ist die Schwelle dann überschritten, und sie werden zu uns geschickt. Da bekommen sie ordentlich den Arsch versohlt. Und das ist so ein Schock, dass sie es in Zukunft tunlichst vermeiden, wieder zu uns geschickt zu werden. Das ist die Idee, oder? Und ja, solche haben wir. Hatten wir vor Allem zu Beginn des Schuljahres. Und ich denke Leonie ist so ein Fall. Hoffen wir einfach, dass sie keine Dana abzieht.“

„Nein. Es geht doch vor Allem darum, ein Vergehen zu bestrafen. Ein begangenes Unrecht zu sühnen. Die 'kosmische Gerechtigkeit' wieder herzustellen, wenn du so willst. Und ja, natürlich auch dafür zu sorgen, dass das Vergehen nicht wiederholt wird. Bei dir scheint das halt nur manchmal genau den gegenteiligen Effekt zu haben. 

Emily. Dana. Anna-Lena. Die scheinen es einfach nicht zu lernen! Und das frustriert mich!“

„Genau. Die Mehrzahl der Fälle, mit denen wir es zu tun haben, ist inzwischen anders gelagert. Nehmen wir Paul. Warum sollte ein Musterschüler wie er plötzlich anfangen, herum zu randalieren? Frühlingsgefühle? Regression?“

„Keine Ahnung. Sag du es mir.“

„Ich habe eine Vermutung. Hat er sich denn halbwegs tapfer angestellt?“

„Der Paul? Ha! Überhaupt nicht. Nach ein paar Minuten bei Katharina war er sooo klein mit Hut. Hat ziemlich geweint am Schluss.“

Sie bemühte sich, nicht allzu schadenfroh zu klingen.

„Interessant. Weil der Flurfunk eine ganz andere Legende erzählt. Angeblich hat er es stoisch ertragen und danach noch gelächelt. Und die Quelle für diese Version scheint Anna-Lena zu sein.“

„Diese kleine ...? Sie hat doch genau mitbekommen, wie er danach beieinander war. Und sie hat sich im Anschluss zehn mal tapferer angestellt als er.“

„Hast du es bemerkt? Jetzt scheint sie seine Freundin zu sein.“

„Nein, ist sie nicht. Paul ist immer noch fest mit Charlotte zusammen. Aber was hat das mit der Sache zu tun?“

„Ich denke, der Paul wollte einfach dazu gehören. Weißt schon. Zu den Coolen. Zu den harten Jungs, die alle schon einen Termin bei Frau Lazka oder mir hinter sich haben. Das war Druck aus der Peergroup. Und Anna-Lena? Die hat auf diese Weise die Gelegenheit ergriffen, ebenfalls dazu zu gehören. Über Paul.“

„Du meinst, er hat absichtlich etwas angestellt, um erwischt zu werden?“

Es war wirklich eine saftige Abreibung gewesen, die Paul kassiert hatte. Das tat sich doch niemand freiwillig an. Oder?

„Das denke ich. Aber reden wir mal über den Elefant im Raum, ja? Reden wir also über Emily. Ich denke, da gibt es so ein paar Dinge, die dich beschäftigen, habe ich Recht?“

„Allerdings. Was war das heute mit Emily?“

„Was, wenn ich dir sage, dass Emily sich ohne Probleme von ihrer Mutter zur Schule mitnehmen lassen könnte. Die fährt jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit quasi an der Schule vorbei. Und bis zur 10. Klasse hat sich Emily immer fahren lassen. Dann wollte sie wohl etwas selbstständiger wirken, und fing an, den Bus zu nutzen. Was verständlich ist. Aber was, wenn sie den Bus verpasst hat? Ihre Mutter fährt locker zehn Minuten später los als der Bus. Warum ruft sie dann nicht kurz daheim an und lässt sich mitnehmen?“

„Du willst mir erzählen, das Mädchen verpasst ihren Bus absichtlich? Um sich so eine Tracht Prügel einzufangen wie heute? Warum in aller Welt sollte jemand so etwas tun?“

„Hmm, also in ihrem Fall kann ich es dir sagen. Sie hat im Oktober letztes Halbjahr das erste mal in ihrem Leben eine Arbeit verhauen. Es war die erste Mathearbeit im Schuljahr. Eine 4-. Andere wären vielleicht froh drum, zumindest noch eine 4 zu bekommen. Für sie aber ist das ein totaler Fail. Du weißt, wie ehrgeizig sie ist. Danach hat sie mich angesprochen, gefragt, wie genau das mit dem Programm funktioniert, wofür man alles bestraft wird, und wie. 'Warum', habe ich sie gefragt. Dann hat sie es mir erklärt. Sie neigt zu Prokrastination. Und wollte von mir wissen, ob ich ihr mit ihrer Motivation helfen kann. Du kennst die Regeln. Wir sind allein für Verstöße gegen die Disziplin und die Schulordnung zuständig. Für ihre Motivation sind die Schüler und Schülerinnen hingegen selbst verantwortlich. Also nein, außer einem Beratungsgespräch konnte ich ihr keine Hilfe anbieten. Fünf Tage später hat sie dann das erste mal 'den Bus verpasst'. Es hat zwei oder drei Termine bei mir gedauert, bis ich das Muster erkannt habe. Ich habe mich dann mal hingesetzt und ihren Klausurenplan mit den Terminen bei uns verglichen. Weißt du, was komisch war? Jedes mal, wenn sie bei uns war, stand zufällig eine wichtige Arbeit in den kommenden Woche an. Es schaut nämlich so aus: Sie besucht mich präventiv. Immer, wenn sie das Gefühl hat, ihre Motivation reicht gerade nicht, um rechtzeitig mit dem Lernen anzufangen... Immer wenn sie merkt, dass sie wieder rumprokrastiniert, dann steht sie bei mir auf der Matte. Selbst den Unterricht, den sie dabei verpasst, wählt sie sorgfältig aus, damit sie nichts wichtiges versäumt.“

Franziska traute ihren Ohren nicht. Aber so ergab es Sinn. Es ergab auf eine unerhörte und deprimierende Art absolut Sinn. Es erklärte alles. Es erklärte vor Allem den seltsamen Dialog heute.

„O.k., das scheint mir irgendwie auf eine merkwürdige Art... nachvollziehbar? Aber das ist doch dann ein Einzelfall. Das ist nicht normal, oder? Was ist mit den anderen? Du kannst mir nicht erzählen, dass eine Naomi, eine Dana oder gar eine Anna-Lena sich besondere Sorgen um ihre Noten machen?“

„Bei Dana ging es wohl letztendlich nur um Aufmerksamkeit. Sie wollte Aufmerksamkeit um jeden Preis, selbst wenn es nur negative Aufmerksamkeit war. Und leider hat sie keine eigene Methode entwickelt, dieses Bedürfnis in sinnvolle Bahnen zu lenken. Das konnte ich wenigstens inzwischen lösen, denke ich. Ich hab sie überredet, ins Unterstufen-Mentoren-Team einzutreten. Jetzt hat sie eine Aufgabe und bekommt jede Menge positive Aufmerksamkeit. Ich denke, sie werden wir nicht mehr so oft in Zimmer 211 sehen. 

Bei Naomi andererseits geht es denke ich darum, dass sie mit ihrem Dickkopf ständig Wände einrennt, und ab und zu einfach einmal das Gefühl erleben muss, dass es auch Wände gibt, die härter sind als ihr Schädel, weil sie sonst an der Welt mit ihren Wänden aus Watte verzweifelt.“

Ja, das klang tatsächlich nach Naomi. Und die letzte Wand hatte sich als sehr hart erwiesen, wenn sie sich recht erinnerte. Frau Lazka und Herr Baumann hatten sich die Schülerin gemeinsam vorgeknöpft. Herr Baumann hatte sie mit dem schweren Lederriemen weich geklopft und Frau Lazka ihr mit dem Rohrstock den Hauptgang serviert. Inklusive eines ordentlichen Nachschlags. Anfangs hatte sie geschrien, geflucht und alle Anwesenden im Speziellen sowie die Schule im Allgemeinen wüst beschimpft. 

Als Frau Lazka dann endlich mit ihr fertig war, hatte sich das Mädchen weinend bei beiden Lehrern entschuldigt. Danach war sie dann für ein paar Wochen im Unterricht wie ausgewechselt gewesen, wenn Franziska sich recht erinnerte. Das war aber auch eine Tracht gewesen, die sie sich da eingefangen hatte. Das Foto, das sie danach von dem verstriemten Po gemacht hatte, gehörte zu ihren absoluten Lieblingsbildern der Sammlung.

„O.k., aber das wären ja beides Beispiele dafür, dass das Programm doch funktioniert. Sowohl Dana als auch Naomi wären ohne das Programm vermutlich schon von der Schule geflogen. Und bei beiden hat sich das Verhalten inzwischen massiv verbessert.“

„Dann denk an Anna-Lena.“

„Ja, was ist mit Anna-Lena? Das Mädchen macht mir eine Gänsehaut manchmal.“

Oli verzog das Gesicht.

„Schwer zu sagen...“

„Was soll das heißen? Dass du es nicht sagen kannst, weil du es nicht willst, oder weil du es nicht weißt?“

„Tja, Ich habe schon eine Theorie. Aber die ist etwas heikel. Und ich bin mir nicht sicher. Letztendlich kann man nur Vermutungen anstellen. Aber zumindest bei Emily gibt es keinen Zweifel.“

„Warum bist du dir da so sicher?“

„Willst du wissen, was in dem Umschlag war, den sie mir gegeben hat?“

Richtig, der Umschlag. Das war wirklich das seltsame Tüpfelchen auf einem äußerst merkwürdigen i gewesen. Sie war in der Tat neugierig.

„Also?“

„Also. Du weißt ja, dass ich Emily immer gefördert habe, was ihre Zeichnungen angeht. Sie ist wie wir wissen ein wenig introvertiert. Und mir ist aufgefallen: sie kommuniziert teils leichter visuell als verbal. Über die Jahre hat es sich eingebürgert, dass sie mir zu verschiedenen Anlässen Zeichnungen schenkt. Manchmal als Dank, manchmal um mir eine Freude zu machen. Und manchmal auch, um etwas zu sagen, was sie nicht aussprechen möchte. Hier. Schau. Das ist jetzt das dritte oder vierte Bild in der Art.“

Er reichte ihr den Umschlag. Darin befand sich ein selbstgezeichneter Comic-Strip. Als ihr klar wurde, worum es in dem Comic ging, schob sie das Blatt schnell wieder zurück in das Kuvert. Hektisch schaute sie sich in der Bar um, ob jemand nahe genug war, um zu sehen, was auf dem Blatt abgebildet war. Sie spürte, dass sie rot wurde. Aber es war nicht viel los heute Abend. Der Tisch, an dem sie beide saßen, stand zudem etwas abseits in einer ruhigen Ecke. Niemand schaute in ihre Richtung. Vorsichtig zog sie das Bild wieder hervor und betrachtete es peinlich berührt. Der Comic war in einer Art niedlichem Mangastil gezeichnet und bestand aus fünf Panels. Im ersten sah man ein Mädchen mit roten Haaren, das einen Zettel mit einer roten 5 in der Hand hielt und bitterlich weinte. Im zweiten war das Mädchen mit runtergelassener Hose über einen Tisch gebeugt und weinte ebenfalls. Der Po des Mädchens war dunkelrot. Neben ihr stand ein Mann, mit einem Lederriemen in der Hand und einem strengen Ausdruck im Gesicht. Der Mann erinnerte an Oli. Emily hatte ihn recht gut getroffen.

Im dritten Panel saß das Mädchen an einem Schreibtisch mit einem Buch vor sich. Auf dem Stuhl unter ihrem Po lag ein dickes Kissen. Von ihrem Po gingen gezackte Linien mit Sternen aus, was wohl bedeuten sollte, dass sie dort Schmerzen hatte. Ihr Gesichtsausdruck war angespannt und etwas schmollend. Unter einem Auge hing noch eine Träne.

Im vierten stand das Mädchen glücklich da mit einem Zettel in der Hand, auf dem eine rote 1 gemalt war. Im letzten Panel umarmte das Mädchen mit freudestrahlendem Gesicht den Mann. Dieser wirkte überrascht und irgendwie unangenehm berührt. Er hatte die Hände erhoben, und bog den Körper weg von dem Mädchen, das ihre Arme um seinen Bauch geschlungen hatte. Um den Kopf des Mädchens flogen Herzchen und glückliche Smilies. 

„Wow. Dieses kleine Biest. Ich meine, ich hab ihr diese Unschuldsmiene nie so ganz abgenommen, aber das hier! So etwas hätte ich nie erwartet! Von keiner 18-Jährigen auf der Welt. Und schon gar nicht von einem Mädchen wie Emily.“

Sie starrte ihn an. „Und du! Du machst bei so etwas auch noch mit, obwohl du das weißt? Es ist schlimmer, als ich dachte!“

„Aber sie zu versohlen, wenn sie wirklich nur den Bus verpasst hätte, wäre besser, ja?“

„Ja!“

„Warum?“

„Es geht doch darum, ein Verhalten zu bessern! Nicht es zu verstärken! Denk mal nach! Sie muss das doch irgendwann selbst auf die Reihe bekommen. Willst du ihr jetzt bis zum Abi regelmäßig den Hintern versohlen, damit sie auf Klausuren lernen kann? Und selbst wenn. Was ist danach? Im Studium muss sie auch auf Prüfungen lernen!“

„Vermutlich nur noch bis zu den Sommerferien. Ich denke darüber nach, von meinem Posten zurück treten.“

„Was? Wegen einer Schülerin, die es ausnutzt?“

„Es ist nicht nur eine. Wie gesagt, ich denke, das Programm funktioniert nicht, da es von falschen Voraussetzungen ausgeht.“

„Bei den anderen bist du nicht sicher!“

„Stimmt. Bin ich nicht. Aber ich mache dir einen Vorschlag: Ich schätze, im Verlauf der nächsten Woche wird Anna-Lena uns wieder beehren.“

„Anna-Lena? Sie war doch erst diese Woche...“

„Ja, mir ist klar, dass sie erst bei Katharina war. Aber ich schätze, von ihr hat sie nicht das bekommen, was sie sucht, also wird sie schnell wieder kommen.“

„Wieso was sucht sie denn?“

„Ich weiß es nicht. Ich bin mir zumindest nicht sicher. Darum möchte ich, dass du einen Termin mit ihr machst, für einen Tag, an dem wir beide alleine mit ihr sind. Und dann schau es dir selbst an und sage mir hinterher, was du darüber denkst, o.k.?“


Später, als sie dann alleine daheim im Bett lag, dachte über den Abend nach. Das mit Emily. Sie dachte an den Comic. Ja, tatsächlich konnte sie inzwischen nachvollziehen, was in dem Mädchen vorging. Sie kannte das aus ihrer eigenen Schulzeit, wie es sich anfühlte, wenn die Schule irgendwie gerade nicht so wichtig schien. Damals hatte es zwar noch keine Smartphones gegeben, die einen ablenkten. Aber es gab genug andere Dinge, mit denen man sich die Zeit besser vertreiben konnte. Jungs zum Beispiel. Vielleicht hätte ihr so ein Arrangement auch geholfen. Vor Allem, wenn jemand wie Oliver...

Nein, diesen Gedanken musste sie schnell los werden. Heute hatte sich mal wieder gezeigt, dass es Gründe gab, warum es so war, wie es eben war. Besser, daran nichts zu ändern. Vor Allem, nachdem sie jetzt wusste, dass er seinen Ausstieg plante. Ärgerlich. Wenn sie seinen Posten neu besetzen würden, dann brauchte sie sich als Frau darauf nicht bewerben, selbst wenn sie die Fortbildung abgeschlossen hatte. Es musste einen Mann im Team geben, das war Vorschrift. Und es gab einfach keinen adäquaten Ersatz für ihn, das musste er einsehen. Wenigstens das. 

Insgesamt war der Abend zwar interessant, aber auch frustrierend verlaufen. Er hatte sie zwar in sein Vertrauen gezogen, was Emily anging, aber letztlich waren jetzt noch mehr Fragen offen als beantwortet.



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