Dieser kurze Missklang verblasst aber schnell. Die anderen Dinge, jene, die mich wirklich berühren, haben sich nicht verändert. Seine Fähigkeit, mich mit Worten in seinen Bann zu ziehen: Seine Stimme. Seine Mimik. Die Art, wie er mich ansieht. Sein Humor. Seine Eloquenz. Seine verdammte Präsenz einfach.
Aber das ist o.k., das war schon immer das, was ich an ihm anziehend fand. Nicht sein Aussehen, sondern sein Wesen.
Und sein Duft. Der trifft mich hart. Ich habe in diesem Jahr des Zuhausebleibens, des Abstands und der FFP2-gefilterten Luft ganz vergessen, wie allgegenwärtig Gerüche eigentlich sind.
Es ist die erste Juni-Woche. Das Wetter ist schön, endlich mal in diesem Frühjahr. Die Sonne tut gut. Wir sitzen nebeneinander auf einer Bank im Park. Er wollte einen öffentlichen Platz für das Treffen. Neutrales Terrain. Für die Aussprache. Trotz seiner oberflächlichen Souveränität spüre ich seine Unsicherheit. Das ist gut. Irgendwie. Es zeigt mir, dass ich mich nicht getäuscht habe. Aber es ist auch hart zu ertragen, ihn so zu sehen.
Er weiß jetzt um meine Gefühle. Ich habe sie ihm in einem verzweifelten Moment mittels Sprachnachricht an den Kopf gedonnert. Zu einem Zeitpunkt, von dem ich wusste, dass er nicht darauf antworten konnte. Subtil, das kann ich.
Jetzt ist es anders. Jetzt kann er sich äußern dazu. Aber außer kleinen obligatorischen Nettigkeiten seinerseits gehört der erste Teil des Gesprächs erneut mir. Aber das ist o.k. Ich wollte das Gespräch. Ich habe den ersten Schritt gemacht. Also habe ich noch einmal die Chance, ihm meine Sicht zu schildern, ruhiger, weniger impulsiv. Und dabei seine Reaktionen zu sehen.
Die sind wie erwartet widersprüchlich. Seine ganze Körperhaltung, sein Blick, alles wirkt oszillierend zwischen Fight or Flight. Ich spüre seinen inneren Konflikt, ich weiß, er kämpft mit sich. Er kämpft um eine Haltung zwischen widersprüchlichen Impulsen. Und es ist irgendwie fast süß zu sehen, wie dieser große Baum eines Mannes im Sturm meiner Gefühle wankt.
Dann ist er dran. Er muss sich äußern. Er muss es sagen. Er muss die Gefühle aussprechen, die ich in ihm sehe. Sonst zählt es nicht. Ich kenne diese Gefühle, ich kenne diesen Widerspruch darin. Aber er muss es sagen, er muss es mir erzählen. Er muss da durch, bevor ich ihm ein Angebot machen kann.
Natürlich weiß ich, was da kommt, aber der Schmerz, der in seiner Stimme liegt, die Verzweiflung, die Wut auf mich, aber vor Allem sich selbst, die trifft mich härter als erwartet, als er sie äußert.
Ja, seine Situation ist scheiße, das sehe ich. Vielleicht scheißiger als meine, vielleicht auch nicht, kommt vermutlich auf den Blickwinkel an.
Wenigstens ist es ausgesprochen. Er fühlt es auch. Nicht, dass das in Frage stand, aber dass er es sich bzw. mir endlich offen eingesteht, ist ein großer Schritt.
Er hat Gefühle für mich. Die Attraktion, die Faszination, das Begehren ist gegenseitig. Aber...
Und das ist natürlich der Punkt, also gehen wir das Offensichtliche noch einmal gemeinsam durch:
Die Dinge die wir nicht ändern können oder wollen.
Er ist in einer völlig anderen Lebenssituation als ich.
Er ist rund 20 Jahre älter.
Er ist verheiratet, besitzt mit ihr gemeinsam eine Wohnung. Er hat Kinder. Eigene und angenommene. Die zum Teil fast schon so alt sind wie ich.
Er ist fest in seinem Beruf angekommen, schon vor Jahren. Hat es sich da gemütlich gemacht und vermutlich keine beruflichen Ambitionen mehr.
Ich bin quasi halb so alt wie er. (Ein bisschen mehr als halb inzwischen, aber wir wollen mal nicht kleinlich sein)
Ich bin seit bald zwei Jahren single.
Ich möchte ziemlich sicher eines Tages eine eigene Familie. Ich bin 24. Ein bisschen Zeit habe ich noch bis dahin, aber nicht mehr ewig.
Ich bin im Aufbruch. Habe meine Ausbildung abgeschlossen und studiere. Ich schwebe. Ich weiß nicht, wo ich in zwei Jahren sein werde. Kann noch nicht einmal sagen, in welcher Stadt ich dann arbeite. Das entscheide ich nämlich leider nicht selbst, sondern mein zukünftiger Arbeitgeber.
Das sind mal die großen Dinge.
Die kleinen Dinge, die der Altersunterschied mit bringt:
Er hat Geld, ich nicht (er ist aber auch nicht reich genug, mich auszuhalten).
Ich will die Welt sehen. Er meint, er habe eigentlich genug davon gesehen, und Schweden sei letztlich doch schöner als Indien.
Ich mag Partys und Clubs. Er nicht (mehr).
Er mag Konzerte (Rock und so), ich nicht. Außer Festivals, die wiederum er nicht mag.
Politisch kommen wir auch selten auf einen Nenner.
Um es anders zu sagen: Ich bin im Aufbruch. Er ist längst angekommen.
Und trotzdem ist da diese gegenseitige Anziehung. Eine Anziehung, die mehr ist als rein sexuell. Auch wenn es natürlich eine große Rolle dabei spielt, dass er so wie ich ein Mensch mit einem sehr ausgeprägten, umfangreichen Kopfkino ist, und dass wir zufällig darin auch noch sehr gut harmonieren. Wir haben fast die gleichen Kinks. Und diese beruhen auf ganz ähnlichen Gefühlen und Ansichten. Das ist wertvoll.
Zudem hat er genau das richtige Maß an mehr Erfahrung im Ausleben derselben als ich.
Aber es ist so: Er will das, was er hat, nicht aufgeben. Er hängt an seinem derzeitigen Leben. Er liebt seine Frau, sagt er. Aber ich denke, er liebt seine Bequemlichkeit und seine Sicherheit. Was ich total nachvollziehen kann und keinesfalls verurteilen möchte. Ebenso liebe ich die Freiheit und die Flexibilität, die meine Lebenssituation mir gewährt.
Und wir wissen beide, dass ich ihm keine Sicherheit, keine Bequemlichkeit, keine Dauerhaftigkeit anbieten kann. Und dass ich einen erheblichen Teil meiner Freiheit aufgeben müsste für ihn. Weil das nie eine Beziehung auf Augenhöhe wäre. Weil unsere gemeinsame Freizeit überwiegend ein Kompromiss wäre.
Ich kann ihm vielleicht noch nicht einmal Liebe bieten. Ich finde keine passenden Worte für das, was ich für ihn Empfinde. Ich weiß nur, ich will ihn. Emotional und körperlich.
Also ist es jetzt Zeit für meinen unerhörten Vorschlag. Vielleicht müssen wir gar nichts aufgeben außer unsere Moralvorstellungen und unsere Skrupel. Vielleicht können wir einfach dem Begehren und den Gefühlen, die wir nicht benennen können, nachgeben, ohne etwas am Rest zu ändern.
Eine altmodische, heimliche Affäre. Wie es mich gruselt bei dem Gedanken.
Und dein Blick, erst überrascht, dann zweifelnd, sagt einiges dazu. Aber ernsthaft. Denk mal darüber nach.
Ob ich das wirklich will? Die Mätresse sein? Die andere? Nicht die Priorität? Kann ich das überhaupt? Weil ja, ich bin da tatsächlich eher konservativ. Ich trenne scharf zwischen Casual Sex und fester Beziehung. Und dazwischen habe ich bisher nichts akzeptiert. Entweder ist es rein körperlich und damit unverbindlich und in der Regel einmalig. Oder es muss das ganze Programm sein. Verliebtheit, Bindung, Exklusivität. Gemeinsame Wohnung, gemeinsames Leben. Es gibt da ein Ablaufprotokoll. Ich bin Priorität 1 für dich, du bist Priorität 1 für mich, und es gibt nichts anderes. Ja, so denke ich eigentlich.
Oder vielleicht dachte ich so.
Wenn ich nämlich ehrlich bin, war es genau das, was meine letzte Beziehung schlussendlich unmöglich gemacht hat. Weil leider Dinge wichtig waren, die es nicht in dem Maße hätten sein dürfen. Banale Dinge. Weil Anspruch und Realität nicht gepasst haben. Was aber, wenn es an den Ansprüchen lag, wenn diese falsch waren, und nicht die Realität?
Er ist wie gesagt überrascht und voller Zweifel. Das passt nicht in sein Weltbild, denke ich, so wenig wie in meines. Seine Frau wird es nicht erlauben, also müsste es heimlich sein. Heimlich und verlogen. Und kompliziert.
Außerdem.
Er kann da vermutlich nicht trennen, sagt er. Außerdem „Ich habe Angst, mich unheilbar in dich zu verlieben.“
Außerdem...
Ja, ich weiß, was du meinst. Die Gefahr ist da. Das Risiko, dass Menschen verletzt werden. Du. Ich. Deine Frau. Deine Kinder. Ich weiß das. Und ich bin bereit, das Risiko einzugehen. Aber ich verstehe, dass du das höhere Risiko trägst.
Aber ich werde schon verletzt. Jeden Tag, den ich dir nahe bin, aber nicht nahe genug sein darf. Seit Monaten leide ich. Und das ist das, was ich dir in der Sprachnachricht gesagt hatte. Diese Situation, so wie sie ist, kann ich nicht mehr ertragen. Ich weiß nicht, wie du das kannst. Wie du weiterhin an der absurden Idee festhalten kannst, einfach weiterhin eine reine Freundschaft zu führen. Nachdem wir beide wissen, was wir fühlen. Und beide darunter leiden. Willst du ewig das Spiel spielen aus wachsender eigentlich unangebrachter Nähe und plötzlichem überstürzten Rückzug, wenn es wieder anfängt heikel zu werden? Ich nämlich nicht. Ich will und werde das nicht länger zulassen.
Das ist also der Punkt jetzt am Ende des Gesprächs. Eine Entscheidung ist zu treffen. Ich habe mich entschieden und ihm ein Angebot auf Grundlage dieser Entscheidung gemacht. Entweder drehen wir an dieser Stelle um und gehen ernsthaft getrennte Wege. Für eine ganze Weile oder sogar für immer. Weil wir uns nicht gut tun. Oder wir gehen jetzt gemeinsam durch diese Tür und sehen mal, was daraus wird, und ob wir uns vielleicht doch gut tun.
Er ist mittlerweile aufgestanden. Er geht hektisch auf und ab. Seine Hände ballen sich zu Fäusten und entspannen sich wieder. Es brodelt in ihm. Das sehe ich.
„Warum stellst du mich vor so eine Wahl?“
Weil wir keine Alternativen mehr haben, Alter Mann. Ich jedenfalls kann nicht mehr. So nicht mehr.
Ja, er versteht das. Er braucht Bedenkzeit.
Aber zum Abschied nimmt er mich in den Arm. Er beugt sich herunter und ich spüre sein Gesicht in meinem Haar. Mein Gesicht ist an seine Brust gepresst. Er atmet mich ein. Ich atme ihn ein.
„Verdammt!“ sagt er nur. Oh wie Recht er hat damit!
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