Most Wanted

Das Programm 4


 Oliver Baumann starrte auf den Zettel in seiner Hand. Dann auf den Schüler, der ihm gegenüber saß. Paul rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. Kein Wunder. Er hatte gestern erst seinen Termin bei Katharina gehabt. Beim Sitzen dürfte er wohl noch einige Tage daran erinnert werden. Und die harten ungepolsterten Stühle im Haus würden es ihm nicht einfacher machen.

Umso ärgerlicher, dass der Junge schon wieder hier saß. Wieder betrachtete Herr Baumann den Zettel. Er runzelte die Stirn. Natürlich hatte die Lehrerin, die Paul erwischt hatte, nicht wissen können, dass er wenige Minuten zuvor erst eine Begegnung mit Frau Lazka gehabt hatte. Und sie hätte so oder so ein Auge zudrücken können. Aber gut. Regeln waren Regeln. Allerdings gab es Regeln, und es gab Regeln. Wobei man auch sagen musste, in diesem Fall hatte die Regel einen guten Grund.

„O.k., Paul. Dann erzähle mal, was du um diese Zeit im Nordflügel zu suchen hattest. Du weißt, die Flure in den beiden oberen Stockwerken sind nachmittags für Schüler und Schülerinnen tabu. Und seit gestern müsstest du eigentlich auch wissen, warum. Also. Was wolltest du da? Warum bist du nach deiner Bestrafung nicht einfach nach Hause gegangen?“

„Ich habe auf jemanden gewartet.“

„Soso. Gewartet. Ich frage jetzt nicht auf wen, weil es mich nichts angeht, aber die Frage ist: Warum hast du nicht im Hof gewartet? Oder an einem anderen Ort? Warum im 2. Stock im Nordflügel?“

„Wissen Sie was, Herr Baumann? Sie sind korrekt. Das weiß jeder. Also sag ich es Ihnen einfach, o.k.? Ich habe auf Anna-Lena gewartet. Sie war nach mir dran. Bei Frau Lazka.“

Herr Baumann stutzte. Anna-Lena war bei Katharina gewesen? Das überraschte ihn etwas.

„Dann weißt du auch, was das Problem ist, oder? Du weißt, warum es verboten ist, sich dort nachmittags aufzuhalten.“

„Natürlich. Weil man da hören kann, was in Zimmer 211 passiert. Aber ich dachte mir halt, nachdem Anna-Lena mich gebeten hatte zu warten, und insbesondere nachdem sie meine Bestrafung mit angehört hatte, wäre es nur fair, wenn ich höre, wie sie sich anstellt.“

Nach einer kurzen Pause fügte er verlegen hinzu:

„Ich schätze, sie hat es viel besser weg gesteckt als ich.“

Herr Baumann musterte ihn scharf.

„Du meinst, Anna-Lena hat auch auf dem Gang gelauscht, während Du bestraft wurdest?“

„Nein, ich meine Anna-Lena saß im Zimmer vorne, während ich nebenan den Hintern voll bekommen habe. Sogar die Tür war offen. Sie hat alles mit angehört.“

Pauls Stimme klang ein wenig trotzig.

„Wie bitte? Anna-Lena war im Vorzimmer, während du bestraft wurdest?“

„Ja. Deswegen hab ich nicht weiter darüber nachgedacht. Und es hat sie nicht gestört. Wir haben uns hinterher... unterhalten darüber...“

„Aha. O.k. Na in dem Fall lasse ich dich jetzt mal mit einer Verwarnung davon kommen. Aber lass dich nicht noch einmal erwischen.“


 Nachdem Paul sichtlich erleichtert das Zimmer verlassen hatte, erhob sich Herr Baumann, um ins Vorzimmer zu gehen.

„Franziska, sag mal stimmt das? Ihr habt gestern eine Schülerin hier im Vorzimmer warten lassen, während drinnen ein Schüler bestraft wurde?“

„War nicht meine Idee, Herr Baumann. Frau Lazka hat das entschieden. Ich nehme an, sie hatte Gründe.

Oliver Baumann musterte seine jüngere, brünette Kollegin. 

„'Herr Baumann'? Wirklich? Seit wann siezen wir uns denn wieder, auch wenn keine Schüler dabei sind?“

„Ähm, ich weiß nicht. Sorry. Ich glaube, ich habe mich einfach so daran gewöhnt, euch nicht mit Katha und Oli anreden, weil doch immer Schüler in der Nähe sind. Und hier drin fühlt es sich auch irgendwie ... natürlicher an.“

Ihre Geste umfasste den Raum und seine Nebenzimmer.

„Wenn Sie meinen, Frau Haas...“

„Ähm, Franziska ist mir trotzdem lieber, also wenn wir unter uns sind, Herr Baumann. Wenn das für dich passt?“

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus der Unterhaltung. 

„Haben wir einen Termin, Franziska?“

„Nein, heute steht keine Maßnahme an, Herr Baumann.“

„Herein!“, riefen sie beide unisono. Er atmete innerlich erleichtert auf. Auch wenn ihm nicht so recht klar war, wovon er sich erleichtert fühlte.

Die Türe wurde sehr vorsichtig geöffnet und gab den Blick frei auf Leonie, die im Türrahmen stehen blieb.

„Leonie. Hast du dich im Tag geirrt? Dein Termin ist erst morgen“, sprach Franziska die Schülerin an.

„Ähm, Herr Baumann, hätten Sie ein paar Minuten für mich, bitte?“

Ihre Stimme klang leise und ungewohnt verschüchtert.

„Klar, Leonie. Komm rein, was kann ich für dich tun?“

Er wusste selbst, dass das angesichts der Umstände etwas hohl klang.

„Kann ich Sie mal unter vier Augen sprechen?“

„Nein, Leonie, das geht auf keinen Fall. Die Schulregeln besagen klar, dass sich ein männlicher Lehrer nicht alleine mit einer Schülerin in einem Raum aufhalten darf. Wir können in mein Zimmer gehen, aber Frau Haas bleibt hier und die Tür bleibt offen.“

Leonie ließ den Kopf hängen, aber dann nickte sie. 

„Also gut.“


 Er nahm hinter seinem Tisch Platz und bot Leonie den Stuhl gegenüber an. Sie setzte sich langsam und so vorsichtig, als ob sie ihre Bestrafung bereits bekommen hätte. Dann sah sie ihn aus ihren braunen Augen einen Moment lang eindringlich an, ohne etwas zu sagen. 

Das waren die Situationen, in denen er seine Funktionsstelle so richtig hasste. Er mochte die Schülerin, die da vor ihm saß. Er mochte sie wirklich gerne. Natürlich bemühte er sich, allen seinen Schülern und Schülerinnen gegenüber eine positive Grundhaltung zu bewahren, aber es gab immer mal wieder einzelne unter ihnen, zu denen einfach eine besonders positive Haltung bestand.

Und Leonie war eine davon. Sie war intelligent, hatte ein ungemein freundliches Wesen, war engagiert in der Klasse, sorgte sich um ihre Mitschüler, hielt sich aus den Zickereien in der Klasse größtenteils heraus, war wissbegierig und aufmerksam, ohne eine Streberin zu sein. Dazu war sie offen und authentisch und spielte keine Spielchen.

Und dann gab es noch zwei Punkte, die eigentlich keine Rolle spielen sollten, es aber dennoch taten. Der erste war, sie mochte ihn ebenfalls, da war er sich sicher. Denn sie zeigte das sehr deutlich. Wenn sie ihn auf dem Flur grüßte, oder wenn man sich sonst über den Weg lief, strahlte sie ihn immer an. Ihr fröhliches 'Hallo, Herr Baumann!' war immer aufrichtig. Und sie war mehr als einmal zu ihm gekommen, um sich Rat oder Hilfe zu holen, wenn sie Fragen oder Probleme hatte. Schulisch oder im Leben außerhalb.

Das andere war etwas, von dem sich nicht leugnen ließ, dass es einen Einfluss zeigte, auch wenn es nicht statthaft war. Weswegen er eigentlich versuchte, es zu ignorieren so gut er konnte: Sie war bildhübsch. Mit ihren dunkelbraunen Haaren und dieser subtil exotischen Nuance in der diese großen braunen Augen in ihrem Gesicht angeordnet waren.

Etwas, das wie gesagt keine Rolle spielen durfte. Etwas, was es aber halt dennoch tat, ohne dass er sich dem entziehen konnte. Und das ärgerte ihn. 

Sie wirkte so zart und weich und verletzlich. Er wollte sie nicht bestrafen. Aber musste es tun. es war sein Job. Und sie hatte es sich so ausgesucht.

Er wünschte sich allerdings wirklich, sie hätte sich für Frau Lazka als Disziplinatorin entschieden. 

„Herr Baumann, es tut mir leid, ich hoffe, ich halte Sie nicht von was Wichtigem ab. Aber ich grübel seit gestern herum. Ich bin mit total unsicher, ob es die richtige Entscheidung war, mich für das Programm einzuschreiben.“

„Na, du kannst immer noch jederzeit aussteigen. Die Teilnahme ist wie du weißt, völlig freiwillig.“

„Ich weiß. Aber dann setzt es eine mündliche Sechs. Ich bin total unentschlossen.“

„O.k., du bist nervös wegen morgen, das kann ich verstehen. Vielleicht gehen wir mal sachlich da heran? Warum hast du dich denn ursprünglich überhaupt für die Teilnahme entschieden?“

„Weil ich es eine gute Sache fand. Also ich finde, dass die Disziplin an der Schule schon echt low war. Und dass es gut war, da mal was zu tun. Und naja, ich fand's irgendwie gut, die Vorstellung, dass es halt mit so einer Strafe dann getan ist, und es einem nicht ewig nachhängt.“

„O.k. Beides ist völlig richtig. Die Strafe ist schnell vorbei, und dann ist die Sache erledigt. Was hat sich jetzt an der Situation geändert? Die Tatsache, dass es dich trifft und nicht 'die Bösen'?“

„Ich... ich will nicht... Ich will nicht bestraft werden!“

„Das will denke ich niemand, aber auf irgend eine Weise muss es auch Konsequenzen geben im Leben, oder?“

„Ja ja, schon, ich meine ja nur...“

Sie holte tief Luft.

„Ich möchte nicht ausgerechnet von Ihnen bestraft werden!“

„Was soll ich dazu sagen? Ich hätte ganz ehrlich nie erwartet, ausgerechnet dich hier vor mir sitzen zu sehen. Aber zum Glück gibt es auch dafür eine ganz einfache Lösung. Du kannst dich stattdessen immer noch für Frau Lazka entscheiden.“

Leonie zuckte sichtbar zusammen. 

„Auf keinen Fall! Sie ist so ein Mistst... ähm...“

Herr Baumanns Blick verfinsterte sich. 

„Leonie, ich weiß, welchen Ruf sie hat, aber glaube mir, sie ist gar nicht so viel strenger als ich. Und ich möchte nicht, dass so über eine Kollegin gesprochen wird.“

„Das mag sein, aber ich hasse die. Ich kann mich keinesfalls von jemandem bestrafen lassen, den ich hasse.“

„Aber von jemandem, den du magst, ist auch blöd, hab ich Recht?“

„Ja.“

„O.k., Leonie, ich glaube ich verstehe das Problem. Du hast Angst, du hasst mich dann hinterher, wenn ich dir weh getan habe, ist es das?“

„Nein. Jein. Ein bisschen schon. Also ja, ich hab Angst, dass hinterher alles anders ist. Aber weniger wegen dem weh tun. Das auch. Aber... aber... wie kann ich Sie denn jemals wieder anschauen? Wie können Sie mich jemals wieder ernst nehmen... Wenn ich... Wenn Sie... Also, nachdem Sie meinen nackerten Arsch gesehen haben?“

„Ach, das ist es.“

„Ja! Ist es wirklich nötig, dass ich vor Ihnen meine Hose runterlassen muss? Ausgerechnet vor Ihnen?“

„Ja, ich fürchte, das ist nötig.“

„Aber warum? Geht es darum, dass wir uns in Grund und Boden schämen? Ist das so ein Scheiß Macht-Dings? Reicht es nicht, den Hintern versohlt zu bekommen, muss ich mich auch noch bis auf die Haut blamieren dabei?“

Herr Baumann zögerte einen Moment. Dann rief er laut:

„Frau Haas, kommen Sie bitte einmal?“

Franziska streckte den Kopf zur Tür herein.

„Könnten Sie der Schülerin kurz erklären, warum wir immer auf das entblößte oder zumindest teil-entblößte Gesäß bestrafen?“

„Also, Leonie. Ich hab ja zuerst gedacht, es geht dabei darum, eine möglichst eindringliche Lektion zu erteilen. Aber inzwischen weiß ich, dass es einen ganz pragmatischen Grund hat. Weißt du, wir müssen sehen, was wir tun. Es ist nämlich so, dass die Wirkung der Instrumente je nach Person ganz unterschiedlich ausfallen kann. Und nur wenn wir die Wirkung sehen, können wir garantieren, dass es einigermaßen gerecht zugeht, und auch dass es nicht zu Verletzungen oder so kommt. Und ich muss die Spuren ja auch dokumentieren.

Aber keine Sorge, deine Unterhose darfst du vermutlich anbehalten.“

Sie blickte zu Herr Baumann, der nickte.

„Es ist mega peinlich. Auch mit Unterhose! Unterwäsche trägt man drunter, die soll niemand sehen. Schon gar nicht meine Lehrer!“

Herr Baumann räusperte sich. „O.k., Leonie, ich mache dir einen Vorschlag. Du kennst doch die beinlosen Gymnastikanzüge aus dem Sportunterricht? Wenn du möchtest, kannst du so etwas anziehen. Der Stoff ist dünn genug, und lässt am Po genug Haut frei, um die Kriterien zu erfüllen. Kannst du es dir vorstellen, dass wir es auf diese Weise hinter uns bringen?“

Leonie sah erst zu Herr Baumann, dann zu Frau Haas und zuletzt wieder zu Herr Baumann. 

„O.k.“, sagte sie leise.

„Gut, dann wäre das jetzt geklärt.“

Leonie erhob sich. Dann zögerte sie einen Moment.

„Ja, gibt es noch etwas, Leonie?“

„Können... können Sie mir sagen, was, also was genau mich morgen erwartet? Was Sie mit mir machen werden?“

„Tut mir leid, ich hab mir deinen Fall tatsächlich noch gar nicht richtig angesehen. Bin noch nicht dazu gekommen. Was hast du denn überhaupt angestellt?“

„Was? Ich hab dreimal meine Scheiß Hausaufgaben vergessen! Das habe ich angestellt! Ich bin offenbar eine Schwerverbrecherin! Ich hasse mein Leben!“

Damit verließ sie den Raum, deutlich schwungvoller als sie ihn betreten hatte. Wow. Hausaufgaben vergessen. Das war es? Deswegen waren sie beide jetzt in einer derart peinlichen Situation? Welcher Lehrer kontrollierte denn bitte in der Oberstufe noch die Hausaufgaben? Verrückt. Heute war offenbar Tag Des Kleinlichen Kollegiums. Der eine hielt sich zur falschen Zeit am falschen Ort auf, um auf ein Mädchen zu warten, die andere hatte ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Und den Kolleginnen, er war sich sicher, dass es Kolleginnen gewesen waren, fiel nichts besseres ein, als sie dafür zu ihm zu schicken. Toll. Er teilte Leonies Befürchtungen, dass danach zwischen ihnen nichts mehr so war wie bisher, durchaus. Das Gesicht von Anna-Lena flackerte kurz vor seinem inneren Auge auf. Er verbannte es schnell zurück in den Panzerschrank mit den verdrängten Zweifeln und schob alle Riegel vor.

Er studierte Leonies Laufzettel. Kollegin Lenner natürlich. Sie war eine von denen gewesen, die damals sehr ausdrücklich dafür gestimmt hatten, dass er diesen Posten bekam. 

„Ist noch was, Franziska?“

Sie stand immer noch im Raum, und schien ihn mit nachdenklicher Miene zu mustern.

„Hmmm. Ich muss sagen, das war... elegant. Sehr einfühlsam. Trotzdem konsequent. Kein Wunder, dass Sie bei den Schülerinnen so beliebt sind.“

„Was möchtest du damit sagen?“

„Ich? Gar nichts.“

„Sicher?“

„Ja. Zumindest nicht jetzt und nicht hier.“

„Franziska! Wenn du etwas sagen möchtest, höre ich es mir gerne an. Du weißt, ich schätze dich und deine Meinung sehr.“

„Herr Baumann. Sie sind der Chef hier. Sie haben die Fortbildung bereits abgeschlossen, Sie sind der Leiter der Disziplinarabteilung. Sie kennen sich besser mit all dem aus. Ich werde mich hüten, irgendwelche Kritik zu äußern.“

„O.k. Mich würde aber trotzdem interessieren, was du zu sagen hast. Wie wäre es, wenn ich dich nach Feierabend auf ein Bier oder so einlade? Dann kannst du es dem Oli erzählen, wenn du es Herrn Baumann nicht sagen kannst.“

„Das ist ein nettes Angebot, auf das ich sehr gerne zurück komme, aber nicht heute. Heute Abend ist Fortbildung.“



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